Jesaja 49, 1-6
Im Buch Deuterojesaja finden sich vier Texte, die als Gottesknechtlieder bezeichnet werden. Im ersten Lied stellt Gott seinen Knecht vor. Im zweiten und dritten Lied spricht dieser Knecht selbst. Im vierten Lied schildert die Gemeinde der Israeliten das qualvolle Geschick des Knechtes und seine Erhöhung durch Gott. Wer ist dieser Knecht Gottes?
Die Texte sprechen absichtlich in verhüllender und verbergender Weise; noch war die Zeit nicht gekommen, den Knecht Gottes zu enthüllen.
Das zweite Lied ist ein eigenes Vertrauenslied des Knechtes. Er erfährt tiefe Verachtung und massiven Widerstand, Ablehnung, Folter – Prophetenlos. Was hilft da ein Lied, wenn Qualen und Ängste tiefe Spuren in der Seele hinterlassen? Was hilft da ein Lied, wenn man eigentlich gerne von der herrlichen Zukunft Gottes erzählen möchte? Was hilft da ein Lied?
Es lädt uns ein, uns selbst hineinzustellen in das, was der Knecht erlebt hat und was viele Menschen erleben: Not, Angst und Tod. Es lädt uns ein, die Erfahrung, dass Gott berührt und hält und aufrichtet, im Lied genauso auszudrücken wie die Demütigungen und das Standhalten. Dieses Lied hat Worte, die den Grund legen dafür, dass wir so singen können: Er, mein Gott, hat mich schon im Mutterleib angerührt.
Er hat mich ins Leben gerufen.
Er, der Morgenstern in mir ruft andere ins Licht.
Er birgt mich im Schatten seiner Hand.
Wer so singt, der singt sich in Gottes Gegenwart hinein. Wer so singt, der erlebt im Singen, dass Gott ihm nahe ist und hilft, auch in großer Not und Einsamkeit. Zum ersten Mal in der biblischen Überlieferung werden hier Leid und Schmerz nicht als Strafe Gottes gesehen, die von Gott trennt, sondern die Erfahrung besungen, dass Gott im Leid anwesend ist, es mitträgt und hindurch trägt.
So einen Glauben können wir nicht machen. Aber wenn wir diese Erfahrungen singen, und das tun wir ja täglich mehrmals, auch stellvertretend, dann kommt er uns ganz nah. Vielleicht kann man wirklich nur in Liedern ausdrücken, die mitten in allem Schweren den Morgen besingen, weil er schon den Ostermorgen im Advent ahnen lässt.
Schwester Ruth Meili CCR (Jesaja 49, 1-6)